Eine kleine Weihnachtsgeschichte
„Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann“
Von Céline Lauer| Veröffentlicht am 24.12.2017 | Lesedauer: 11 Minuten
Gibt es einen Weihnachtsmann? Das wollte die achtjährige Virginia einst von ihrer Zeitung wissen. Die Antwort der Redaktion berührt noch immer. Wie sie lautet und wie es zur Frage kam, lesen Sie hier.
1897 wollte die achtjährige Virginia vom Chefredakteur der „New York Sun“ wissen, was es mit dem Weihnachtsmann auf sich hat:
Ich bin acht Jahre alt. Einige meiner kleinen Freunde sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der 'Sun' steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann? Virginia O’Hanlon.
Die Sache war dem Chefredakteur der „Sun“ so wichtig, dass er einen erfahrenen Kolumnisten, Francis P. Church, beauftragte, eine Antwort zu entwerfen – in der Zeitung. Die Antwort bewegte Millionen Menschen weltweit, dass er Jahr für Jahr aufs Neue erschien.
Hier die Antwort von Francis P. Church auf Virginias Frage:
Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie sind angekränkelt vom Skeptizismus eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben nur, was sie sehen: Sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, Virginia, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.
Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiss wie die Liebe und die Großherzigkeit und die Treue. Und du weißt ja, dass es all das gibt, und deshalb kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Sie wäre so dunkel, als gäbe es keine Virginia. Es gäbe keinen Glauben, keine Poesie – gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig. Aber das ewige Licht der Kindheit, das die Welt erfüllt, müsste verlöschen.
Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du auch den Märchen nicht glauben. Gewiss, Du könntest Deinen Papa bitten, er solle an Heiligabend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht – was würde das beweisen?
Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meistens Kindern und Erwachsenen unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie. All die Wunder zu denken – geschweige denn sie zu sehen –, das vermag nicht der Klügste auf der Welt.
Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die größte Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein. „Ist das denn auch wahr?“, kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer, und nichts ist beständiger.
Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehn mal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.
Frohe Weihnacht, Virginia!
Dein Francis Church
Und so kam es Ende des 19. Jahrhunderts zu Virginias Frage:
Es war einmal – so dürfen ja eigentlich nur Märchen beginnen, keine wahren Begebenheiten. Die Geschichte von Virginia und dem Weihnachtsmann hat sich zwar Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich zugetragen, aber sie ist so bezaubernd, dass eine Ausnahme erlaubt sein muss. Es war also einmal ein kleines Mädchen namens Laura Virginia O’Hanlon, das lebte in der 115 West 95th Street in Manhattan, New York.
Virginia, wie die meisten Kinder ihres Alters, machte sich schon im September Gedanken über das anstehende Weihnachtsfest – oder vielmehr: Sorgen. Denn von ihren Freunden hatte die Achtjährige erfahren, dass es in Wirklichkeit gar keinen Weihnachtsmann gibt. Bis dahin, so erzählte sie später, hatte sie immer an ihn geglaubt; schließlich hatte er sie nie enttäuscht. Jetzt aber bohrte und nagte der Zweifel.
So wandte sich Virginia in ihrer Not erst einmal an ihren Vater Philip O’Hanlon, der Assistent eines Untersuchungsrichters und offenbar ein Mann mit großem Herzen war, denn er brachte es nicht über sich, seiner Tochter eine ehrliche Antwort zu geben. Um sie aber nicht im Ungewissen zu lassen, schlug er ihr vor, doch einen Leserbrief an die „New York Sun“ zu schreiben, zu jener Zeit eine der wichtigsten Zeitungen der Stadt.
In der Familie war es üblich, die „Frage & Antwort“-Kolumne zurate zu ziehen, wenn eine Streitfrage aufkam – zur korrekten Aussprache eines Wortes etwa oder zu historischen Fakten. „Wenn du es in der ‚Sun‘ siehst“, versicherte Philip O’Hanlon deshalb seiner Tochter, „ist es so.“
Virginia setzte sich also hin und schrieb tatsächlich an die Redaktion – ihren Brief mit der drängenden Frage: „Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann?“ – und schickte ihn ab. Er landete in den Händen von Francis Pharcellus Church, einem ehemaligen Kriegskorrespondenten während des Amerikanischen Bürgerkriegs.
Als Sohn eines baptistischen Geistlichen war der Journalist bei der „Sun“ oft für heikle theologische Fragen zuständig, denen er dann auf der Leitartikelseite nachging – stets nach seinem persönlichen Motto: „Sei bestrebt, deinen Verstand von Heuchelei freizuhalten.“ An der Front hatte der 58-Jährige wenige Jahrzehnte zuvor viel Elend und Schrecken erlebt; er galt als entschlossener, kaltblütiger Mensch, der teilweise sardonische Analysen verfasste und dem gefälliges Beipflichten widerstrebte.
Über Hoffnung und Glaube philosophieren
Aber in Virginias Schreiben lag mehr als nur eine simple Frage, die es mit Ja oder Nein zu beantworten galt. Es bot ihm die Möglichkeit, über Hoffnung und Glaube zu philosophieren, zu einer Zeit, in der es der gebeutelten Nation an beidem mangelte.
Und so schrieb Francis P. Church seine Antwort mit dem berühmten Satz: „Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann“, 61 Zeilen, die am 21.September 1897 leicht versteckt ihren Platz in einer Spalte der „Sun“ fanden, noch unterhalb einer Meldung über ein kettenloses Fahrrad. Ohne Autorenzeile, denn es war üblich, dass die Verfasser der Leitartikel unbekannt blieben.
So unprominent der kleine Artikel erschien, so weltbekannt wurde er in den kommenden Jahrzehnten: Die Leser waren zutiefst berührt von Churchs Worten, die „Sun“ druckte ihn zum nächsten Weihnachtsfest auf Seite 1 nach, und im Folgejahr, und in den Jahren danach, bis die Zeitung 1950 eingestellt wurde.
Tradition weltweit fortgeführt
Andere Blätter griffen den Text daraufhin auf und führten die Tradition weltweit fort – in Deutschland seit 34 Jahren die „Welt am Sonntag“. Heute, mehr als ein Jahrhundert später, ist es der meistgedruckte Leitartikel, der je in einer englischsprachigen Zeitung erschienen ist – er dürfte damit der bekannteste aller Zeiten sein.
Und Virginia? 66 Jahre später sagte sie in einem Radiointerview, wie glücklich und stolz sie gewesen sei, solch einen überwältigenden Beweis für die Existenz des Weihnachtsmannes zu haben. Doch es gab noch etwas, das sie fast noch mehr bewegte als diese Gewissheit. „Dass mir kleinem Kind eine solche Wärme entgegengebracht wurde, weckte in mir ein Verantwortungsgefühl, diesen Idealen gerecht zu werden.“
Ihr Leben brachte Höhen und Tiefen: 1910 heiratete sie Edward Douglas, die Ehe bestand jedoch nicht lange. Aus ihr ging allerdings Virginias einziges Kind Laura hervor, die ihrer Mutter später sieben Enkel bescheren sollte.
Virginia O’Hanlon Douglas wurde nach ihrem Studium an der New Yorker Columbia University erst Schullehrerin und dann Direktorin; ihre letzten Tage verbrachte die Rentnerin in einem New Yorker Pflegeheim, bis zu ihrem Tod am 13.Mai 1971. Auch er vermochte dem Zauber um die Geschichte der kleinen Virginia nichts anzuhaben.
Botschaft hat Virginias Leben bereichert
Vielleicht hatte die ältere Dame geahnt, dass die Botschaft ihres ungewöhnlichen Briefwechsels auch Jahrzehnte nach ihrem Ableben noch Bestand haben würde. Zumindest aber, so erzählte sie als Seniorin, hatte er sie zeit ihres Lebens bereichert: „Es hat mir viele schöne und interessante Dinge beschert, die, wie ich glaube, sonst nicht passiert wären.“
Dazu dürften auch die unzähligen Zuschriften zählen, die sie erreichten – und denen sie in ihrer Antwort stets eine Kopie des Leitartikels von Francis P. Church beifügte.
Dem Autor selbst wurde diese Aufmerksamkeit nie zuteil. Er starb kinderlos nur wenige Jahre, nachdem er dem Mädchen geantwortet hatte, am 11. April 1906 in New York. Erst danach enthüllte die Redaktion der „Sun“, deren Chefredakteur Churchs Bruder William Conant war, dass Francis Pharcellus die inzwischen berühmte Replik verfasst hatte.
Die „New York Times“, für die Church Kriegskorrespondent gewesen war, rühmte den Journalisten in ihrem Nachruf für seine scharfsinnigen Beiträge, mit denen er in vielen Fällen die Gedanken der Leser geordnet und damit der Öffentlichkeit einen großen Dienst erwiesen habe: „Sie zeigten eine Entschlossenheit, sich nicht hinters Licht führen zu lassen, noch nicht einmal von sich selbst.“
Brief beschäftigt auch die Experten
Tatsächlich hat sein Brief bis heute für viele Leser einen weitaus tieferen Sinn, eine philosophische Ebene. Die „New York Times“ etwa beschäftigte sich exakt hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung mit der Frage, weshalb Churchs Text die Menschen bis heute nicht loslässt, und zog mehrere Experten zurate. Deren Antwort: „Yes, Virginia“ vermittele nicht den Glauben an Santa Claus, sondern den Glauben an den Glauben selbst.
Gerade im späten 19. Jahrhundert, analysierte ein Historiker, sei die US-amerikanische Mittelschicht mit tiefen religiösen Zweifeln behaftet gewesen, und oft behalf man sich damit, an Gottes Existenz allein deshalb zu glauben, weil er so dringend gebraucht wurde. Allein: Das Gefühl der Gottverlassenheit, das die Gesellschaft zusehends beschlich, drohte grundlegende Werte infrage zu stellen. Genau an diesen Punkt knüpfte Church mit seiner Antwort an, er appellierte an seine Leser, sich ihre Überzeugung zu wahren.
William David Sloan, Professor für Journalismus an der Universität von Arkansas, formulierte es so: „Hätte Church Santa Claus verleugnet, hätte er die fantasievolle Welt vieler junger Menschen zerstört und mit Werten und Traditionen gebrochen, die vielen Leute wichtig sind.
Church stärkte die Hoffnung des Kindes
Hätte er dagegen Santas Existenz ganz nüchtern bejaht, hätte er nichts von bleibender Bedeutung beigetragen. Was Church tat, war, die Hoffnung eines Kindes zu stärken, indem er Ideale vorgab, die auch für Erwachsene erstrebenswert sind. Er setzte nicht einfach nur einen Mythos fort. Er gab ihnen einen Grund, zu glauben.“
Das Glauben fiel indes auch manchen „Sun“-Lesern schwer. Denn seit dem ersten Abdruck 1897 gab es immer wieder Zweifler, die die rührende Geschichte von der kleinen Virginia für einen kreativen Einfall der Redaktion hielten. Virginia O’Hanlon äußerte sich 66 Jahre später erstaunt darüber, dass Leser immer noch überrascht von ihrer Existenz seien: „Viele dachten ja, ich sei nur eine Erfindung.“
Oft wurde auch das Schreiben als Fälschung abgestempelt; eine Achtjährige, so nörgelten viele Kritiker, würde ihre Spielkameraden doch nicht als „meine kleinen Freunde“ bezeichnen. Die Debatte wurde so ernsthaft geführt, dass sich der History Channel ihrer annahm und ein Special über das Dokument drehte.
Enkel von Virginia bewahrten Brief in Album auf
Das Fernsehteam fand heraus, dass Virginia den Brief einer ihrer Enkelinnen geschenkt hatte, die ihn in ein Album klebte. Lange wurde befürchtet, dass ebenjenes Buch bei einem Hausbrand vernichtet wurde, doch 30 Jahre nach dem Feuer wurde es wundersamerweise wiederentdeckt – unversehrt.
Damit konnte dann auch die Echtheit des Briefs nachgewiesen werden: Kathleen Guzman, eine Sachverständige für Antiquitäten, lud Urenkelin samt Erbstück in ihre Fernsehsendung „Antiques Roadshow“ ein und schätzte den Wert des handgeschriebenen Stück Papiers auf 20.000 bis 30.000 Dollar. Zum Verkauf stand es allerdings nicht.
Zu Geld gemacht wurde Virginias Brief dafür auf andere Weise. Die Geschichte diente Büchern und Filmen als Vorlage, sie wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Erst erschien 1971 das Kinderbuch „Yes Virginia“, 1974 dann der Emmy-gekrönte Fernsehfilm; die NBC hatte den Text überdies schon 1932 zu klassischer Musik interpretieren lassen.
New Yorker College hat schönste Hommage auf Virginia
Es folgten eine weitere Verfilmung, ein Musical und unzählige popkulturelle Referenzen an den berühmten Satz „Yes, Virginia, there’s a Santa Claus“. Die wohl schönste Hommage auf Virginia O’Hanlon aber findet an ihrer Universität, dem Columbia College in New York, statt: Dort werden jedes Jahr zur „Yule log ceremony“, dem traditionsbehafteten Weihnachtsfest, beide Briefe vorgelesen.
Eine Geste, die Virginia O’Hanlon mit Sicherheit gefallen hätte. Denn, so resümierte sie gut sechs Jahrzehnte nach Verfassen des Briefes, im Laufe der Zeit habe Churchs Antwort für sie sogar noch an Bedeutung gewonnen: „Je mehr ich mich darin vertiefe, desto mehr verstehe ich, wie viel es anderen Menschen bedeutet, solch eine feste Überzeugung für die besten Dinge im Leben zu haben: Glaube, Liebe, Romantik, Poesie.“ Sie wusste, dass die wenigen Worte des Journalisten ihre Gültigkeit nicht verlieren würden, dass sie selbst heute, 114 Jahre später, die Menschen noch zu bewegen vermögen.
Denn, um es in Virginias Worten zu sagen: „Je älter ich werde, desto mehr realisiere ich, welch eine perfekte Lebensphilosophie sich doch darin verbirgt.“ Auf dass diese Philosophie die Welt noch lange zu einem etwas schöneren Ort werden lassen möge, zumindest ein wenig – und sei es nur zu Weihnachten.
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